Gegen Ende der Wiener Studienjahre hatte Steiner dann auch Gelegenheit, die Gestalt und Entwicklung der Pflanze noch auf ganz andere Art anzuschauen. Vermittelt durch seinen Mentor Karl Julius Schröer erhielt er den Auftrag, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften samt eigenem Kommentar in Kürschners Deutscher National-Literatur herauszugeben. Die intensive Beschäftigung mit Goethes Naturanschauung erschloss ihm im Herbst 1882 die Bedeutung von dessen <Idee der Metamorphose>, und den ersten Band leitet Steiner denn auch folgerichtig ein mit der Betonung von Goethes Pflanzenforschung und dessen Metamorphosen-Lehre.
Goethe beschrieb darin die Pflanze als Prozess dreifacher Ausdehnung und Zusammenziehung, in dem sie sich stufenweise vom zusammengezogenen Samenkorn über Blattentfaltung, Blütenbildung und Fruchtreifung bis in neue Samen entwickelt. Im Vergleich dazu erscheint der bloss aus einem Stängel und einem Paar einfacher, keimblatt-ähnlicher Blätter bestehende Jahrestrieb der weissbeerigen Mistel ausserordentlich stark gehemmt.
Steiner lernte durch Goethe nicht nur, die Mistel mit normalen Blütenpflanzen zu vergleichen, sondern auch, wie die Gestaltentwicklung auf spezielle Bildekräfte und Tendenzen in der Mistel schliessen lässt.